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Auf die Empfindung kommt es an; was wir empfinden, prägt unser Leben. Was wir empfinden, trägt unsere Erwartung. Es legt unsere Wahrnehmung fest. Nur wer seine Wahrnehmung reflektiert, kann die Sicht auf das Leben verändern. Das Leben besteht aus Ausbildung und Autonomie. Das sind zwei gegensätzliche Pole. Das Erkennen des eigenen Ichs hat sehr wohl gesellschaftliche Bedeutung.

Die Psychologisierung der Gesellschaft hat sämtliche Lebensbereiche erfasst. Also auch die Sprache, das Denken, die Partnerschaft, Familie, die Beurteilung der Gemeinschaft usw. In den 70er Jahren ging es um Selbstfindung und um Rebellion, den Einzelnen zu prägen, sollte kollektiv wirken. In den 80er Jahren ging es darum, dass die Psychologie die Effektivität steigern und damit ökonomischen Nutzen herstellen sollte. Es ging nicht mehr um Selbstfindung, sondern um Selbstoptimierung.

Heute ist es leiser geworden, es geht um Sehnsucht nach Stille, Achtsamkeit und Wertschätzung. Die Psychologisierung darf nicht dazu führen, dass jede Verhaltensauffälligkeit als psychogene Erkrankung gedeutet wird. Tatsächlich verschwindet die Grenze zwischen krank und gesund. Ganz krank oder ganz gesund – das gibt es nicht. Die Psychologin Stefanie Stahl begreift die Psychologie als Problemlöse-Algorithmus. Das Problem der Seele und das Erlernen mit dem Umgang kann Ordnung schaffen. Plötzlich wirkt erkannt, dass alles gar nicht so kompliziert ist. Daher schafft man ein niederschwelliges Angebot für die „Normalgestörten“, die Durchschnittsneurotiker. Das darf aber nicht dazu führen, dass eine Vielzahl von psychischen Erkrankungen nicht ernst genommen wird. Auch gibt es eine Vielzahl von Faktoren, die nicht in den psychologischen Kontext des Einzelnen fallen, sondern im sozialen Umfeld begründet ist. Menschen mit niedrigem Einkommen, niedrigem Bildungsniveau, Arbeitslose und Kranke leiden häufiger an Depressionen. Resilienz, also die Fähigkeit der psychischen Widerstandskraft, macht zurzeit Karriere, nicht zuletzt bedingt durch die Corona-Pandemie. Die psychologischen Ratgeber empfehlen Akzeptanz, positives Denken und Achtsamkeit, um den Alltag zu meistern. Dieser Rat darf aber nicht dazu führen, dass man die Realität nicht wahrnimmt. Die Resilienz darf nicht dazu führen, dass Menschen Missstände ertragen anstatt sie zu bekämpfen. Es gibt reale Missstände wie schlechte Arbeitsbedingungen, Personalmangel, Lohnungerechtigkeiten und vieles andere.

Diese Probleme kann man nicht wegmeditieren, die gesellschaftlichen Probleme dürfen nicht auf den Einzelnen verschoben werden. Soziale Schieflagen würden verschärft und die Schwachen in der Gesellschaft weiter geschwächt. Wer finanzielle und organisatorische Freiräume hat, hat auch die Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten. Wer nicht zu diesem privilegierten Personenkreis gehört, hat nur die Möglichkeit, die Situationen auszuhalten. Es bedarf also anderer gesellschaftlicher Entwicklungen, die außerhalb der Psychologie liegen.

mt