Jürgen Margraf ist Alexander-von-Humboldt – Professor für Klinische Psychologie & Psychotherapie an der Ruhruniversität Bochum. Für seine herausragende Forschung zu Angst und ihrer Bewältigung sowie für seine engagierte und öffentlichkeitswirksame Vermittlung seiner Forschung wurde ihm im September von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPS) der Franz-Emanuel-Weinert-Preis verliehen.
Nina Heinrichs hat ihn nach seiner ganz persönlichen Meinung zum Umgang mit der Angst gefragt.
Herr Professor Margraf, wir befinden uns mitten in der Corona-Pandemie. Ist im Moment in Bezug auf Angst eine besondere Zeit?
Wir haben keinen wahnsinnigen Anstieg der „Durchschnittsangst“ in der Bevölkerung. Wir haben auch nicht einen großen Anstieg der klinischen Angststörung. Man kann aber aufgrund der historischen Erfahrungen erwarten, dass es eine verzögerte Reaktion geben wird.
Was sagen Ihre Patienten zu der momentanen Situation?
Die Angstpatienten, die wir aktuell befragt haben und bei denen therapeutisch interveniert wurde, sind nicht nur im Umgang mit ihren speziellen Ängsten entspannter. Viele sind auch durch COVID-19 weniger belastet. Im Rahmen der Therapien lernen unsere Patienten, der Angst ins Auge zu blicken, ohne dabei panisch zu werden. Genau das ist derzeit die große Herausforderung für uns alle.
Was ist Angst überhaupt? Ist sie eine Schutzfunktion? Ist Angst gesund?
Die Angst ist ein Gefühl, eine Grundemotion. Die Funktion der Angst ist eigentlich sehr klar: sie ist eine Emotion mit hohem Überlebenswert, sie warnt vor Gefahren, bereitet schnelles Handeln vor. Es gibt neben den beiden Hauptreaktionsmustern Kampf und Flucht noch eine dritte Reaktionsmöglichkeit: die Schreckstarre, den Schock. Das sind die drei vorprogrammierten Muster. Sie sind Teil der Angstreaktion.
Und wie ist das mit positiven Gefühlen?
Positive Emotionen haben eine ganz andere Funktion. Angst engt den Handlungsspielraum ein, auf ganz wenige vorprogrammierte Dinge, die dann unglaublich schnell und effizient ablaufen. Andere Emotionen hingegen weiten das Spektrum. Wenn Sie gut drauf sind, wenn Sie positive Gefühle haben, dann haben Sie ganz viele Ideen, was Sie tun können. Bei der Angst fällt Ihnen nur ein „Nix wie weg“ ein.
Ist Angst angeboren oder erlernbar?
Beides. Es ist eine Verbindung, es ist ein Zusammenspiel von Erbe und Umwelt. Die vererbte Seite sorgt dafür, dass bestimmte Sachen besonders effizient sind und schneller ablaufen. Aber stellen Sie sich vor, wir wären ausschließlich durch unser Erbe definiert, wie ein vorprogrammierter Roboter, wir laufen durch eine Welt für die unser Erbe uns geschaffen hat – die Welt ändert sich ja, es ist eine Illusion zu glauben, sie bleibt gleich. Dann würden wir sehr schnell aussterben. Von daher sind wir erfahrungssensitiv, wir lernen aus Erfahrung.
Spielt denn das Erbe oder die Umwelt bei Ängsten eine größere Rolle?
Bei den Ängsten haben wir sehr genau gezeigt, dass der genetische Anteil viel kleiner ist als man denkt – besonders wenn man jetzt auf die klinischen Ängste kommt, also die Angststörungen, dann wenn Angst nicht mehr funktional ist, sondern dysfunktional. Da ist es so, dass Erfahrungen, Interpretationen, Bewertungen, Informationsverarbeitung eine ganz große Rolle spielen.
Welche Ängste unterscheiden Sie?
Da gibt es die Phobien, die Angstzustände, es gibt das chronische Sich-ganz-viel-Sorgen-machen. Es gibt die massive Angst vor der negativen Bewertung durch andere Menschen, es gibt die Zwänge und es gibt die posttraumatischen Störungen.
Wie ist das mit den Phobien?
Die Phobien gehören zu den klassischen Ängsten. Wir fürchten bestimmte Dinge aber mehr als andere. Es gibt viele Leute, die Phobien haben in Bezug auf Schlangen oder Spinnen und es gibt zum Beispiel gar keine Herdplattenphobien, keine Autotürphobien – klinisch habe ich das noch nicht gesehen und wir sehen hier 2700 Patienten im Jahr, von denen viele wegen Ängsten kommen.
Wie gehen wir Menschen mit Ängsten um?
Wir sind genetisch vorbereitet, bestimmte Reiz-Reaktionsverbindungen zu lernen. Bestimmte Reize, zum Beispiel die Schlange und bestimmte Reaktionen darauf, Herzklopfen, Schweißausbruch usw. werden miteinander verbunden.
Ist dann Verhaltenstherapie die Lösung?
Bei klinisch relevanten Angststörungen ist Verhaltenstherapie eindeutig die Methode der Wahl. Das heißt nicht, dass diese Therapieform immer funktioniert, aber sie ist eindeutig besser als alles andere.
Der Punkt ist: Angst ist eine simple Sache. Sie KANN Dein bester Ratgeber sein, aber sie kann sich auch verselbständigen, entgleisen und dann wird sie sehr negativ. Angst ist vergleichbar mit dem Blutdruck. Jeder hat sie, jeder braucht sie. Aber man kann zu viel oder zu wenig davon haben. Beides ist ein Problem.
Wann wird Angst denn krankhaft? Das ist ja wahrscheinlich dann auch nur ein kleiner Grad zwischen „das ist gesund“ und „jetzt brauche ich Hilfe“…
Es gibt verschiedene Meinungen dazu. Es ist natürlich nicht ein plötzlicher Bruch, also so nach dem Motto „jetzt sind Sie gesund, jetzt holen Sie sich den Virus und nun sind Sie krank“, sondern es ist ein Kontinuum. Wie beim Blutdruck. Zu viel, zu wenig. Da ist eben die Frage, wo ziehe ich die Grenze.
Bei den Ängsten ist es nicht nur eine Frage der Intensität, es ist vor allem auch eine Frage von vier Punkten: Erstens: ist die Angst unangemessen? Das bezieht sich auf zu stark oder zu lange anhaltend. Das zweite ist: können Sie die Angst kontrollieren? Wir sind sehr unterschiedlich, manche Leute können gut kontrollieren, andere weniger. Das dritte ist: leiden Sie? Und dann kommt noch als vierter Punkt: sind Sie eingeschränkt in Ihren Funktionen?
Wenn das alles zutrifft, dann ist es nicht mehr gesund.
Wie kann ich jemandem helfen, der sozusagen in die Angst geht? Oder braucht die Person sofort professionelle Hilfe?
Am besten wäre, erstmal auf die Person zuzugehen, Hilfe anzubieten. Aber warten Sie nicht zu lange, wenn Sie merken, dass das nicht funktioniert, dass Sie scheitern. Aber erst einmal spricht nichts dagegen, das Problem alleine zu lösen und die meisten Leute schaffen das auch, sie kriegen ihre Ängste alleine in den Griff oder haben sie soweit im Griff, dass es kein wirkliches Problem wird. Das kann man ruhig mal ein paar Wochen probieren, auch ein paar Monate, wenn man es aushält. Aber wenn es bis dahin nicht geklappt hat, sollte man sich Hilfe suchen.
Also muss nicht jede Angst therapiert werden…
Nein. Es ist sinnvoll, eine sinnvolle Angst zu haben! Eine normale gesunde Angst brauchen wir zum Leben. Wenn es allerdings zu viel wird, sollten Sie auch gucken, ob Sie vermeiden. Vermeidung hat den Charakter einer schiefen Bahn. Wenn Sie da ins Rutschen kommen, wird es immer schwieriger anzuhalten und die Angst weitet sich aus. Und dann kommt die sogenannte kognitive Verzerrung dazu, das heißt, Ihre Informationsverarbeitung ist nicht mehr akkurat genug. Sie bewerten zum Beispiel die Schlange als viel größer und gefährlicher als sie ist.
Was mache ich, wenn ich merke, dass ich die Wahrheit verzerre?
Wenn Sie das feststellen, dann sollten Sie etwas tun. Sie müssen gucken, ob Sie leiden. Es gibt sehr viele Menschen, die z.B. Angst haben vorm öffentlichen Sprechen – da kann man wirklich helfen. Auch hier ist die Verhaltenstherapie die beste Hilfe.
Wo finde ich Hilfe, wenn ich glaube, dass meine Angst nicht mehr gesund ist?
Man kann direkt zum Psychologischen Psychotherapeuten gehen oder auch zum Hausarzt und sich überweisen lassen. Ich rate aber dringend davon ab, sich Medikamente verschreiben zu lassen! Das ist leider häufig der Fall und dann kommt es bei den Patienten schnell zu einer Medikamentenabhängigkeit – wir haben in Deutschland seit 2-3 Jahren mehr Medikamentenabhängige als Alkoholabhängige!
Es ist mittlerweile leider so, dass man feststellt, dass viele Patienten von den verschriebenen Psychopharmaka nicht runterkommen.
Das heißt, Sie lehnen Psychopharmaka als Medikament gegen Angststörungen ab?
Die positive Wirkung ist nicht anhaltend bei Psychopharmaka, ganz und gar nicht, die negative hingegen schon. Es gibt Studien die belegen, dass z.B. Ihr Risiko für Demenzen langfristig steigt.
Die Hausärzte sind die Gatekeeper und es ist gut, hinzugehen. Es gibt viele gute Hausärzte! Aber lassen Sie sich bei Ängsten keine Medikamente verschreiben und drängen Sie Ihren Arzt nicht dazu. Lassen Sie sich zur Psychotherapie überweisen. Der Hausarzt kann unglaublich viel Gutes tun, wenn er den Menschen beruhigt und seine Ängste ernst nimmt.
Medikamente nehmen ist natürlich leichter, dann muss ich nichts tun!
Ja genau. Es gibt Leute, die gerne etwas tun und es gibt Leute, die nicht so gerne etwas tun. Wenn Sie diese Motivation haben, dass Sie passiv geheilt werden, dann ist es schwieriger. Jetzt kommt es aber sehr darauf an, was für eine Art von Angst Sie haben.
Was passiert bei Panikattacken?
Bei Panikattacken bekommen die Leute aus heiterem Himmel riesige Angstschübe, kurz, schnell, intensiv und dann denken sie, das muss was mit meinem Körper zu tun haben. Sie bekommen dann immer mehr davon, weil sie immer mehr in sich reinhorchen und dann massive Vermeidungsverhalten entwickeln, das nennt man Agoraphobie. Dies bezeichnet die Angst vor Angst bzw. ihren befürchteten Folgen und ist die häufigste Form der Angststörung in der klinischen Praxis.
Was ist eine generalisierte Angststörung?
Hier geht es um das chronische Grübeln. Wenn Sie Stress haben, ist es die Art, wie Sie grübeln und wie Sie damit umgehen, die entscheidend ist. Patienten mit einer generalisierten Angststörung grübeln über genau die gleichen Dinge wie andere Leute auch, aber sie grübeln erstmal viel mehr. Vor allem aber versuchen sie mit aller Gewalt, dieses Grübeln zu unterdrücken und bewirken damit das Gegenteil: Wenn Sie aktiv versuchen, an etwas nicht zu denken, denken Sie schon die ganze Zeit da dran!
Aber man kann doch verdrängen!
Aber das klappt nicht gut! Man versucht es, aber das klappt nicht.
Stimmt, dann kommt es abends irgendwann raus…
Da gibt es einen Versuch, den ich schon viele Male – mit Studenten, genauso wie mit Patienten – gemacht habe: Schließen Sie die Augen. Stellen Sie sich einen weißen Bären vor, jetzt geht der in die Ecke, legt sich hin. Und jetzt Augen auf! Und in den nächsten zwei Minuten, komme was wolle, denken Sie nicht an den weißen Bären! Für jedes Mal, dass Sie an ihn denken, machen Sie einen Strich. Und ich sage Ihnen: von 200 Leuten machen 198 Leute ganz viele Striche.
Man sollte sich also gezielt mit solchen Gedanken beschäftigen und sie besser nicht unterdrücken?
Kommen lassen! Eine mögliche Therapie ist, sich hinzusetzen und mal gezielt eine halbe Stunde zu grübeln. Aber bis zum Ende, nicht vorher abbrechen. Aber: die ganze andere Zeit machen Sie das nicht, grübeln also nicht. Das machen wir auch mit unseren Patienten.
Das heißt: man sollte sich eine regelmäßige Grübelzeit gönnen?
Ja, das ist ein Tipp für diese Fälle.
Aber bei einer generalisierten Angststörung haben die Leute Sorgenketten, das heißt, wenn sie einen unangenehmen Gedanken haben, wollen Sie diesen weghaben, lenken sich ab. So graben Sie ein Loch, um ein anderes zuzuschütten und das nimmt eine ganz bestimmte Form an.
Da kommt man in eine Gedankenspirale?
Das versuchen wir den Betroffenen klarzumachen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass zum Beispiel etwas Schlimmes passiert – meinem Kind stößt etwas zu – äußerst gering ist. Zum Glück!
Ich hole die Menschen dort ab, wo sie emotional gerade stehen. Ich versuche, die positive Wahrheit hineinzuschmuggeln – es kann passieren, aber das ist doch total unwahrscheinlich.
Die Idee ist nicht, dass ich ihnen sage, was richtig ist, sondern, dass sie das bis zum Ende durchdenken und auch bei den ganz schlimmen Katastrophen sehen, dass das Leben weiter geht und sie das schaffen können.
Was ist aus Ihrer Sicht dann Gesundheit?
Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Was wir haben, ist ein kurzes Maß für positive psychische Gesundheit, das ist ähnlich wie auf der körperlichen Ebene. Wenn Sie fit sind, geht die nächste Grippewelle an Ihnen vorbei oder Sie überwinden die Krankheit schneller. Das gibt es auch bei der Psyche. Es gibt Leute, die Sachen ganz anders wegstecken als andere. Und wenn man guckt, was das ist, dann finden wir eine interessante Kombination, die wir mit 9 kleinen Fragen messen können. Das haben wir schon in 20 verschiedenen Sprachen gemacht, das funktioniert überall.
Der Grad der positiven Gesundheit entscheidet darüber, ob Sie unter Stress psychische Probleme entwickeln oder ob Sie, wenn Sie ein Problem haben, da alleine rauskommen.
Das bedeutet, dass die positive Gesundheit gestärkt werden muss, wenn man unter Ängsten leidet?
Daraus folgt jetzt nicht automatisch, dass die Therapie so aussehen müsste, dass ich diesen Teil steigere, stärke. Wenn das geht, ist das natürlich gut.
Um das Gefühl der positiven Gesundheit zu stärken, bietet sich z.B. die „Loving Kindness Meditation“ an, das ist eine Meditationstechnik, die hilft, das Gefühl der Positivität zu stärken. Das kann jeder erst mit Bezug zu sich selbst, dann für nahestehende Menschen und schließlich mit anderen Menschen zusammen machen, unsere Patienten machen das erstaunlich gerne.
Die Psychologie entwickelt sich immer weiter, das finde ich wahnsinnig toll. Was mich in meinem Beruf seit jeher umtreibt, ist die Botschaft: man kann Ängste behandeln!
Wie häufig kommt eine Angststörung eigentlich vor?
Ungefähr jeder Vierte wird im Laufe seines Lebens eine Angststörung von Krankheitswert entwickeln. Und daraus kann sich eine Depression entwickeln, ein noch größerer Belastungsfaktor.
Bochumer Bürger finden bei Ihnen Hilfe?
Ja auf unserer Seite www.kli.psy.ruhr-uni-bochum.de finden Sie alle Informationen. Liebe Leute, die Ihr Hilfe braucht: Ängste gibt es, man kann etwas gegen krankhafte Ängste tun, es sind die Psychologen, die Ihnen helfen!
Vielen Dank für das Gespräch!
Nina Heinrichs
Dieser Artikel stammt aus der BOGESUND-Ausgabe 04/2020.