Ein Gespräch über Narzissmus und krankhafte Selbstlosigkeit mit Professor Dr. Georg Juckel

Prof. Dr. Georg Juckel ist Ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums Bochum für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Präventivmedizin.. (Bildquelle: RUB, Nelle)

Im Online-Artikel der „Neue Zürcher Zeitung“ vom 20.Juli 2021 mit dem Titel „Flutkatastrophe in Deutschland: die Grausamkeit des Gaffers“ wirft die Autorin Birgit Schmid den „Katastrophentouristen“ vor, mit ihrem Handeln, zum Beispiel mit Video-Posts, ihren eigenen Narzissmus zu befriedigen. Narzissten schreiben wir gern krassen Egoismus, Selbstsüchtigkeit und krankhafte Selbstdarstellung zu – Eigenschaften, deren Zunahme in der Gesellschaft immer häufiger beklagt wird. Professor Dr. med. Georg Juckel, Ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin, beleuchtet im Gespräch mit Werner Conrad (MedQN) Narzissmus auch im Hinblick auf aktuelle Aspekte und Entwicklungen.

Was versteht man unter Narzissmus?

Das zentrale Konzept dieses Begriffes kommt für uns aus der Selbstpsychologie von Heinz Kohut, einem österreichisch-amerikanischen Arzt und Psychoanalytiker. Er hat herausgearbeitet, dass der Narzisst eigentlich ein schwacher Mensch ist. Derjenige, der in sich ruht, der souverän, der gelassen ist, braucht sich nicht permanent durch Aussehen, Autos, tolle Frauen (oder Männer), Schmuck und ähnliches aufzuspielen. Dagegen wird Narzissmus als Ausdruck der Schwäche verstanden – mein natürliches Selbst muss ich verstärken durch äußere Güter. Der Narzisst ist in diesem Kohut´schen Begriff dadurch gekennzeichnet, dass er permanent bestrebt ist, seine empfundene Minderwertigkeit auszugleichen. Letztendlich kann er in die Krise geraten, weil er nicht alles bekommt und auch nicht ausreichend Aufmerksamkeit erhält. Dann kann sich die sogenannte narzisstische Wut sogar auch gegen sich selber wenden. Diese Menschen neigen allzu oft zu suizidalen Handlungen. Sie hassen dann sich selbst, weil sie es im Grunde nicht geschafft haben, Aufmerksamkeit und Bewunderung zu bekommen.

Wo liegen die Ursachen für narzisstisches Verhalten?

Wenn man das aus der Selbstpsychologie und auch aus dem Freudschen Denken ableitet, muss man davon ausgehen, dass wir alle durch eine Art narzisstische Phase gehen. Dabei geht es darum, inwiefern wir uns mit einem natürlichen Halt in uns selbst auch unabhängig von den Eltern auszustatten vermögen und ob wir mit beiden Beinen auf der Erde stehen. Das gelingt als Idealvorstellung den Wenigsten. Wir sind ja alle irgendwo früh- und identitätsgestört. Wir beobachten heute, dass immer mehr Menschen ein schwaches Selbst haben. Diese haben tendenziell eine narzisstische Problematik und versuchen, das auszugleichen durch ein schillerndes Äußeres. Das ist natürlich eine Form von Egozentrik und Egoismus. Sie versuchen diesen Ausgleich auch durch mediale Selbstdarstellung. Jede Belanglosigkeit des eigenen Alltags wird in Instagram und Facebook gepostet. Es geht um mediale Aufmerksamkeit, um narzisstische Zufuhr. Wenn die ausbleibt oder zu gering wird, wenn man zu wenig Likes hat, kommt man in eine – neumodern gesprochen – digitale Krise.

Die starken, tollen Typen, die sich uns zeigen, sind also oft gar nicht so stark, so toll wie wir es sehen?

Absolut. Mag sein, dass so eine Selbstdarstellung etwas Selbstverliebtes, Selbstverspieltes hat, und das ist sicherlich auch eine Komponente des Themas. Das ist aber nicht der Kern des Narzissmus, wie oben dargestellt. Das, was landläufig damit gemeint ist, nennen wir malignen Narzissmus. Das betrifft Leute, die egozentrisch hoch drei sind. Da geht’s nur um sie selber, um Selbstbeweihräucherung, man spricht nur über sich selber, alle müssen nach ihrer Pfeife tanzen. Der maligne Narzissmus ist für die Mitmenschen sehr belastend.

Verstärkt unsere moderne Lebensart, verstärken die sozialen Medien, das Internet den Narzissmus?

Ich weiß nicht, ob er sich verstärkt hat, aber er findet wieder andere Plattformen, andere Welten mit ähnlichem Mechanismus. Narzissten gebrauchen andere Menschen, sie brauchen einen ganzen „Hofstaat“, der ihnen zujubelt – das ist vielleicht das traditionelle Modell – und jetzt habe ich einen digitalen Hofstaat mit ganz vielen Bildern, tausend Likes, hunderttausend Freunden. Therapeutisch wollen wir erreichen, dass ein Mensch aus sich selbst heraus lebt. Voraussetzung ist natürlich, dass man ein „Selbst“ hat. Normalerweise habe ich meine Werte, mein Denken ruht in mir, ich teile mit meinem Partner, mit meiner Familie. Ich brauche nicht irgendwelche Sekundärwerte sprich viele Autos, viele Bekannte oder dass ich immer auf Partys bin und alle mir zujubeln.

Die „Bühne“ für schillernde Darsteller und Darstellungen hat sich also vergrößert…

Wir haben schon eine mediale Gesellschaft, die narzisstisches Verhalten stark unterstützt durch Film und Fernsehen und Kino, in der narzisstische Tugenden der Selbstdarstellung sehr gefördert werden. Es zeigt sich, dass Menschen zunehmend Schwierigkeiten damit haben, wirklich echte und ganz normale zwischenmenschliche Beziehung zu führen. Oft geht es dann für den Narzissten in erster Linie darum, seine Persönlichkeit durch den Gebrauch anderer aufzuwerten. Das therapeutische Ziel wäre, diesen Menschen nahezubringen, einen Ausgleich durch eine „echte“ Beziehung zu erreichen, die gut tut, die einfach nur normal und alltäglich ist.

Die Menschen müssten zu mehr „echtem“ Selbstbewusstsein kommen, weg von der zur Schau gestellten Selbstdarstellung?

Genau. Mehr Selbstbewusstsein heißt mehr Souveränität. Sich nicht selber instrumentalisieren und auch nicht andere instrumentalisieren. Wenn der Narzisst eine Beziehung eingeht, spielt dabei oft der Ersatzaspekt eine Rolle – es geht ihm zum Beispiel um Schönheit, Reichtum. Solche Beziehungen sind allzu oft zum Scheitern verurteilt. Narzissten haben oft viele scheiternde Beziehungen hinter sich und sind oft im zunehmenden Alter alleine und einsam. Viele dieser Menschen leiden unendlich, insbesondere wenn es auf das Alter zugeht. Dann stellt sich plötzlich die Frage, wer kümmert sich eigentlich um mich, wer ist an meinem Krankenbett, wer ist an meinem Sterbebett? Sterben, Krankheit und Verfall sind für Narzissten ohnehin ein ganz, ganz großes Problem, weil es ja die narzisstische Kränkung schlechthin ist, dass ich nun einmal endlich bin.

Was kann man tun? Gibt’s eine Therapie?

Es gibt keine Medikation dazu bis auf akute Situationen, in denen Ängste und Depressionen mit Medikamenten behandelt werden können. Im Endeffekt geht es um eine schonungslose Psychotherapie, die dem Narzissten deutlich macht, was genau sein Störungsbild und seine gestörten Verhaltensweisen sind. Da das in der Regel tief in der Kindheit angelegt ist, sind auch tiefenpsychologische, psychoanalytische Verfahren besonders hilfreich. Zumeist bedeutet es eine jahrelange Arbeit. Und da haben wir das große Problem, dass im Ruhrgebiet insgesamt kaum Therapieplätze vorhanden sind und es erst recht kaum solche für Tiefenpsychologie oder Psychoanalyse gibt.
Im Grunde geht es darum, dass der Narzisst in seiner Therapie lernt, dass er nicht alleine auf der Welt ist, dass er auf die Bedürfnisse und Wünsche des anderen achtet. Das kann man z.B. im Rollenspiel machen und in Natura ausprobieren. Der Patient soll lernen, sich in den anderen hineinzuversetzen, Emotionen von anderen zu erkennen und diese konstruktiv für sich zu erleben.

Bin ich schon Narzisst, weil ich auf irgendwas stolz bin, was Schönes groß poste? Wo kommt da die Grenze?

Eine kluge Frage. Dass man stolz ist, dass der VfL Bochum aufgestiegen ist, ist eine ganz normale Freude. Die Frage ist letztendlich, was ist die Rückmeldung von anderen auf mein Verhalten. Wenn andere einem zunehmend privat und auch beruflich die Rückmeldung geben, du denkst ja nur an dich, hast du dich mal erkundigt nach dem Schicksal der anderen, hast du dich dafür interessiert, wie es dem anderen geht – dann sollte man überlegen, ob man bereits über diese Grenze gegangen ist. Man kann den alten Spruch als Richtschnur nehmen, um sein Verhalten in Beziehungen und bei solchen Störungsbildern wie dem Narzissmus einzuordnen: Man selber leidet nicht oder kaum, sondern die anderen leiden z.T. heftig. Also: Durch Rückmeldung der anderen kann man aufmerksam werden; den Narzissmus selber zu diagnostizieren, ist schwierig. Aber dann sollte der Weg in eine Psychotherapie und Behandlung eingeschlagen werden.

Uneigennützigkeit, Selbstlosigkeit – Altruismus in der Fachsprache – scheinen ja das Gegenteil des Narzissmus zu sein. Ist das wirklich so einfach?

Man sagt ja grundsätzlich, der Altruismus ist gut. Aber der pathologische Altruismus ist letztlich ein verkappter Egoismus. Ich sage es mal etwas übertrieben: Wenn ich mich darüber stabilisiere, dass ich gleichsam heldenhaft z.B. aktuell den Flutopfern helfe und noch in 43 Krankenhäusern permanent Patienten zur Seite stehe und dann noch das Bedürfnis habe, das überall zu posten – dann ist das natürlich ein pathologischer Altruismus, der im Hintergrund schlichtweg ein Narzissmus ist. Es gibt Menschen, die gute Taten tun. Das ist völlig in Ordnung und zu bewundern. Aber wenn sie es tun, um sich selbst zu stabilisieren, dann ist das hochverdächtig für Narzissmus. Ich gebrauche jemand anders für eine Sachlage, für eine Handlung und instrumentalisiere das für mich. Der souveräne Mensch macht es einfach – Punkt. Der nichtsouveräne Mensch, der Narzisst, oder der pathologische Altruist tut es nicht, weil er dem anderen helfen will, sondern um sich selber zu helfen, zu stabilisieren und das auch zur Schau zu stellen. Das ist dann nicht offen narzisstisch, kann aber mindestens genauso pathologisch sein.


„Das Wort Narzissmus entstammt der altgriechischen Sage vom schönen Jüngling Narkissos, der mit unstillbarer Liebe seinem eigenen Spiegelbild verfallen war und die Liebe der Nymphe Echo verschmähte, weil sie seiner Schönheit nicht gerecht wurde. Die Liebesgöttin Aphrodite bestrafte ihn dafür mit einer unstillbaren Selbstliebe. Der Mythos endet damit, dass der seinem Spiegelbild Verfallene sich aus Schmerz über die Unerfüllbarkeit seiner Liebe mit einem Dolch das Leben nimmt. (Stangl, 2021).“
Verwendete Literatur
Stangl, W. (2021). Stichwort: ‚Narzissmus – Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.

https://lexikon.stangl.eu/307/narzissmus  (2021-07-31)


Das Interview ist erschienen im Messesonderheft BOGESUND 3/2021